von Marie » 05.12.2014 11:09
Hallo liebe Leute,
mir scheint, das Problem mit dem Visualisieren liegt auf einer anderen Ebene. Ich hatte mich vor Jahren ziemlich intensiv damit auseinandergesetzt, ohne es bis heute richtig zu lernen. Dabei geht es mir durchaus wie beim "richtigen" Sehen; ich hatte durchaus Momente in denen ein glasklares Bild auftauchte, aber husch, dann war es schon wieder weg. Irgendwann war mir dann allerdings klar, dass ich es mit meiner Vorgehensweise niemals lernen werde, und mangels besseren Übemethoden habe ich das Visualisieren (erst einmal) ad acta gelegt. Statt dessen habe ich das genutzt was ich sehr gut kann: meine sensorische Vorstellungskraft. Das funktioniert auch, aber letztlich ist und bleibt es ein Kompensieren einer nicht eingesetzten Fähigkeit. Deshalb hätte ich durchaus großes Interesse daran, dies (wieder) zu erlernen.
Vor zwei Jahren hatte ich mich aus gegebenem Anlass mit dem Thema Dyskalkulie zu beschäftigen. Bei dem verzweifelten Versuch, meinem Kind Rechnen beizubringen, habe ich große Parallelen zu meinem (ebenfalls manchmal verzweifelten) Versuch, das Sehen wieder zu erlernen, entdeckt. Die meisten Leute, habe ich festgestellt, können sich (wie ich ja früher auch) überhaupt nichts darunter vorstellen. Die Lehrer haben natürlich schon davon gehört und halten es in den meisten Fällen für eine Laune der Natur, bei der es eben Leute gibt, die aus noch nicht geklärten Gründen nicht die Fähigkeit besitzen, Rechnen nachhaltig zu erlernen. Sie untermauern ihre These damit (wenn sie sich überhaupt um eine Erklärung bemühen), dass man dies im EEG sehen könne, denn diese Menschen benutzen anscheinend andere Gehirnbereiche zu Rechnen als Leute, die gut rechnen. Damit ist schon impliziert, dass man nicht viel dagegen tun kann, und wenn, dann nur unter größten Mühen. Das spiegelt sich auch darin, dass manche Bundesländer bei der Diagnose Dyskalkulie einen Ausgleich auf die Schulnoten geben, damit die Kinder nicht noch stärker benachteiligt sind.
Aus diesem Grunde weicht man - meiner Meinung nach - einer "Diagnose" so lange wie möglich aus, um ein Kind nicht unnötig zu stigmatisieren, da ja viele Kinder anfänglich Probleme haben, bei den meisten aber irgendwann der Knoten platzt (jedenfalls ist man dieser Meinung). Aus diesem Blickwinkel ist diese Vorgehensweise durchaus nachzuvollziehen. Als ich schon sehr früh die Frage gestellt habe, ob es denn eventuell sein könnte??? wurde es mit dem Argument, das wäre noch viel zu früh, sofort vom Tisch gewischt.
Ich habe aber trotzdem weiter recherchiert und schließlich auch wirklich Hilfreiches gefunden. Tatsächlich liegt die Ursache bei meinem Kind in der Tatsache begründet, dass es das, wovon andere ausgehen, dass man es sowieso tut (denn anders kann man gar nicht rechnen), eben nicht macht. Das Kernproblem (neben einer Reihe anderer) ist die Tatsache, dass die meisten Leute bei einer Zahl sofort die dazugehörige Menge dazu sich vorstellen. Manche Kinder machen dies aber nicht. Sie verstehen die Zahl wie einen Buchstaben. Das Symbol "3" klingt dann eben "drei", ebenso wie ein "a" einen bestimmten Klang hat. Bei den Zählübungen werden dann diese Klänge und Symbole den einzelnen Gegenständen zugeordnet wie man eben Namen zuordnet. Bei drei Gegenständen wird dann dem ersten Gegenstand der Name "eins" zugeordnet, dem zweiten die "zwei", dem dritten die "drei". Auf diese Art und Weise gehen die ersten Schulwochen ins Lande, und ein Kind hat eventuell in den ganzen Wochen nicht einmal die Menge als ganzes gedacht, sondern immer nur jeden einzelnen Gegenstand mit einem Namen versehen. Sie hätten genausogut das Alphabet oder eine feste Abfolge von Namen nutzen können, in ihrem Fall wäre es auf das gleiche hinausgekommen. Zählen hat jetzt bei ihnen ein ganz andere Bedeutung und Aktivität zur Folge, als bei Kindern, die die Zahlen als Gesamtmenge gedacht und verstanden haben.
Wer an dieser Stelle die Stirn runzelt - ich kenne das schon. Die meisten Leute, denen ich das erzähle, glauben mir einfach nicht, dass das wirklich so ist, oder sie verstehen erst gar nicht, was ich meine. Will man aber eine Lösung finden, muss man den Gedanken weiterdenken:
Die Kinder, die diesem fatalen Missverständnis erliegen, haben jetzt schon zwei Probleme: Erstens, sie haben das, was die anderen Kinder gelernt haben, nämlich in Mengen zu denken und diese miteinander zu vergleichen, nicht gelernt und somit bereits einen Rückstand gegenüber den Klassenkameraden und zweitens, sie haben sich im Umgang mit Zahlen eine falsche Strategie zugelegt, die sie von nun an immer verwenden werden, denn sie haben keine andere. Würde man das Problem jetzt erkennen, müsste man erstens den Stoff aufarbeiten, den die anderen Kinder gelernt haben und zweitens bei jeder einzelnen Aufgabe sicherstellen, dass sie tatsächlich eine Menge denken. Das ist möglich, aber nur mit geeignetem Anschauungsmaterial und mit Einzelarbeit. Am Ergebnis der Aufgaben erkennt man jedenfalls nicht, ob das Kind richtig oder falsch gedacht hat. Deshalb merkt es auch keiner, allenfalls, dass mehr Fehler auftauchen als bei den anderen Kindern. Ich erhielt von der Schule den tollen Rat, ich solle einfach viel üben. Dann werde der Knoten schon platzen.
Denkt man den Gedanken noch ein wenig weiter: kommt jetzt Plus und Minus hinzu, kann man sich vorstellen, dass Dyskalkulie-Kinder nun größte Schwierigkeiten bekommen. Wie soll man zu dem Gegenstand mit dem Namen "drei" den Gegenstand mit dem Namen "zwei" hinzu tun? Und wieso hat das Ergebnis den Namen "fünf"? Ganz irre wird es, wenn man etwas wegholen soll. Aber auch hierfür kann man eine (Pseudo-)Lösung finden, nämlich, indem man zählt. Man macht sich eine Vorstellung von der Zahlenreihe (wie vom ABC) und geht wie folgt vor: 5 + 2 ist dann: Ich zähle von der Position fünf aus bis auf 2, dann lande ich bei der Zahl, die das Ergebnis ist. Es ist sehr mühsam und dauert sehr lange, bis man diese Strategie "beherrscht", aber gerechnet haben diese Kinder dann immer noch nicht. Problematisch wird es dann wieder, wenn der Zahlenraum über Zehn ersschlossen wird, denn jetzt reichen die Finger nicht mehr aus, und das Stellenwertsystem ist ohne eine geignete Vorstellung unmöglich zu verstehen. Ich belasse es mal bis hierhin.
Es soll ja nur die Diskrepanz verdeutlichen von dem, was manche Leute tun, wenn sie Matheaufgaben lösen und dem, was die Umwelt denkt, was sie tun.
Ich glaube, dass das Problem beim scharfen Sehen und beim Visualisieren möglicherweise ebenfalls solche unausgesprochene, für jemanden, der es richtig macht, nicht vorstellbare und durchaus unsinnige Tätigkeiten verantwortlich dafür sind, dass man etwas, das eigentlich leicht wäre, trotz größten Bemühens nicht erlernt. Da hilft es auch nichts, dass man zeitweise in der Lage ist, bestimmte Buchstaben an der Sehtafel zu erkennen oder manchmal visualisieren kann. Ich würde gerne das, was gut visualisierende Leute beim Visualisieren machen mit dem abgleichen, was ich tue. Dazu bräuchte ich eine exakte Beschreibung, die ich in der Form noch nirgends gefunden habe. Vielleicht hat ja jemand Lust und Zeit dazu?
Ich könnte mir vorstellen, dass dies eine spannende Diskussion werden könnte.
Liebe Grüße
Marianne