Ich habe noch ein wenig über den 'Elefantenrüssel' nachgedacht (weil der Sehnerv die Dicke eines Elefantenrüssels haben müsste, wenn die Umwelt 1:1 abgebildet werden sollte).
Ich denke nicht, dass es nur Platzgründe sind, weswegen wir statt unserer Sehnerven keine 2 'Elefantenrüssel' in unserem Kopf haben.Vermutlich erfordert die bewusste Verarbeitung der Seheindrücke unter Einbeziehung der Erinnerung den komplizierten Weg über das kleine Schlüsselloch der Makula mit Hilfe schneller Augenbewegungen.
Dazu eine interessante Geschichte:
Madison Smart Bell: [Die Hühnertheorie der Filmkunst]
Die ganze Zeit über konnte ich an nichts anderes denken als an die berüchtigte Hühnertheorie der Filmkunst. Sie stammt von Marshall McLuhan und lautet ungefähr folgendermaßen: Eine Gruppe von Anthropologen geht mit ihren Filmkameras in den Dschungel und sucht so lange, bis sie einen hinreichend unverdorbenen Eingeborenenstamm findet. Sie freunden sich mit den Leuten an und verbringen einige Wochen damit, die täglichen Verrichtungen und die festlichen Höhepunkte im Leben des Stammes zu filmen. Alles geht gut. Die Anthropologen reisen ab, um ihren Film entwickeln, schneiden und kopieren zu lassen, dann kommen sie wieder. Mit Unterstützung eingeborener Helfer errichten sie eine große Hütte, um den Film vorzuführen. Es wird Nacht, der Stamm versammelt sich, die große Show beginnt. Und ist auch gleich wieder zu Ende.
Die Eingeborenen sind auffällig wenig beeindruckt. Sie scheinen sich sogar ziemlich zu langweilen.
»Na, wie hat. euch denn der Film gefallen?« fragen die Anthropologen, oder etwas dergleichen.
»Was meinen Sie?« fragen die Eingeborenen.
»Na, euch«, sagen die Anthropologen. »Euer Alltagsleben, die Jagd, Tänze, Ackerbau und so weiter. Ihr da oben auf der Leinwand.«
»Die August-Besucher müssen verrückt sein«, sagen die Eingeborenen. »Auf der Leinwand war nichts. Nur Licht und Schatten.«
Die Anthropologen werden jetzt wütend. Sie verbarrikadieren die Hütte und erklären, sie würden den Film so lange laufen lassen, bis jemand etwas erkenne.
Und genau das machen sie auch. Wieder und wieder wird der Film vorgeführt.
Schließlich hebt ein besonders aufmerksamer Eingeborener die Hand. Die Anthropologen halten den Film an und fragen, nicht ohne innere Erregung, was er gesehen habe.
»Ich habe ein Huhn gesehen«, sagt der Mann.
Die Anthropologen sind, soweit das überhaupt noch möglich ist, jetzt noch wütender und frustrierter. Denn soviel sie wissen, gibt es in dieser Szene gar keine Hühner. Die Einstellung zeigt einen großen Tanz des ganzen Dorfes voller Leben und Farbe. Aber der Eingeborene besteht darauf, er habe ein Huhn gesehen. Sonst nichts. Die Forscher unterbrechen die Vorführung und beginnen, die entsprechende Passage des Films noch einmal von Hand abzuspulen. Schließlich entdecken sie, daß auf zwölf Einzelaufnahmen, ungefähr eine halbe Sekunde lang, tatsächlich ein Huhn sichtbar ist. Tief im Bildhintergrund, fast völlig verdeckt von zwei Reihen maskierter, heftig tanzender Männer, huscht es von einer Hütte zur anderen.
Die Anthropologen holen die Eingeborenen wieder zusammen und führen den Film erneut vor. Und richtig: Der Eingeborene, der das Huhn als erster bemerkt hat, sieht es auch diesmal, und zwar genau an der Stelle, wo es inzwischen auch die Anthropologen entdeckt haben. Mehr sieht er allerdings nicht.
Tagelang wird die Filmvorführung noch wiederholt. Allmählich sehen weitere Eingeborene das Huhn. Dann beginnen sie allmählich noch andere, völlig isolierte und scheinbar irrelevante Einzelheiten wahrzunehmen, bis sie schließlich den ganzen Film »sehen«. Sie sind erfolgreich in eine völlig neue Kultur der Illusion eingeweiht worden.
Und was bedeutet das nun? Niemand weiß es genau. Es kursiert allerdings das Gerücht, daß in allen kommerziell erfolgreichen Filmen der westlichen Welt irgendwo ein Huhn eingebaut ist, auch wenn es nur eine halbe Sekunde lang auftritt …
Eine apokryphe Geschichte wahrscheinlich.
aus: Madison Smart Bell: Ein sauberer Schnitt
München: Goldmann, 1988
S. 43–45
Wenn etwas nicht erkannt werden kann, reagiert der Kurzsichtige anders darauf als der Normalsichtige:
Das normale Auge macht niemals Sehversuche. Findet es einmal
Hindernisse, sei es durch sehr schlechtes Licht oder zu große Entfernung,
so schweift es zu einem anderen Punkt. Es wird niemals mit
Gewalt etwas herauszubringen suchen, etwa durch Hinstarren auf den
Gegenstand. Dies tut nur das kranke Auge.
(Bates S.75)
Also der Normalsichtige geht davon aus, dass ihm noch weitere Informationen fehlen und geht auf eine 'weiterführende, mühelose und spielerische Entdeckungsreise', so ähnlich wie in diesem Suchbild:
Ausgehend von einem Detail, das wie ein Stück von einem Reh aussieht, erkennt man immer mehr 'Reh-Teilstücke', bis schliesslich ganz deutlich erkennbar dort ein Reh steht, wo vorher nur ein Gewirr von Linien bzw Ästen und Stämmen erkennbar war (wer solche Bilder kennt, sieht das Reh natürlich sofort).
In der 'Seh-Realität' sieht das Erschliessen dann so aus:
(
http://www.zweigstelle-berlin.de/cuerten_editionen.htm )
Das 'kranke Auge' (bzw Bewusstsein) 'sieht' den 'Fehler' nicht in fehlender Information, sondern gibt sich - überspitzt gesagt - selbst die Schuld am 'Versagen' und fällt in eine 'Schockstarre'.
Aus der mühelosen, spielerischen Entdeckungsreise wird - wieder überspitzt formuliert - eine unbewältigte, anstrengende Aufgabe mit Stress, Erfolgsdruck und Versagensangst. Das Sehen wird zu einer 'Leistung', die erbracht werden muss. Und das ist um so fataler, als durch Anstrengung das 'Reh' keineswegs besser sichtbar wird, denn hier ist Flexibilität und das Einlassen auf eine neue Perspektive gefordert...
So ähnlich ging es mir, als ich neulich auf etwas zufuhr, das ich einfach nicht identifizieren konnte und ich rätselte, was das wohl sein könnte. Ich wollte mich aber diesmal nicht anstrengen und sagte mir, "egal, wenn ich näher rankomme, werde ich's dann schon genau sehen." Und das sah ich dann auch - zugleich wurde mir aber auch bewusst, dass ich das auch als Normalsichtige nicht erkannt hätte, denn die Perspektive war zu ungünstig; aus meinem Blickwinkel musste man die Szene ganz anders interpretieren und dann passte einiges nicht zusammen und so ergab das ganze Bild keinen Sinn...
Und das, was man trotz (und wahrscheinlich sogar wegen) grosser Anstrengung nicht genau erkennen kann, wird dann wohl zum Pessimum.