Die Liebe, die Achtung vor sich selbst,
die Aufmerksamkeit für sich selbst
können nicht fruchtlos sein.
Mirsakarim Norbekov steht in der Tradition des Sufismus. Man erwarte von ihm also kein konventionelles Augentraining-Buch, in dem Sehbehinderungen erläutert und Übungen zu deren Beseitigung abgehandelt werden. Es gibt am Schluss des Buches zwar auch Augen- und (fast noch mehr) Gelenksübungen, aber Norbekov betont immer wieder, dass die Hauptsache nicht die Übungen sind, sondern der innere Zustand und die Haltung, in welchem sie ausgeführt werden. "90 Prozent der Aufmerksamkeit sind auf die Herstellung der inneren Stimmung zu legen und 10 Prozent auf die Technik der Ausführung".
In den ersten 233 Seiten des Buches wird der Leser, der sich eine Heilung ohne Änderung seines Charakters erwartet, zuerst einmal schonungslos attackiert und provoziert. Der Heilungssuchende muss zuerst einmal seine Selbstverantwortung für seinen Zustand erkennen. Das geht nicht mit Schmeicheleien und netten Worten. Nein, zuerst einmal muss der innere Schweinehund überwunden werden, der immer nur auf Wunder hofft oder Hilfe von aussen erwartet und eigenverantwortliches Handeln auf morgen verschiebt. Also auf nie.
Klingt streng? Überhaupt nicht! Das Buch geht auch als Witzbuch durch. Der Spass und das Lachen über sich selbst gehört geradezu zur Methode. Norbekov bringt köstliche Lehrgeschichten, teils Sufi-Legenden à la Gurdjieff, meist aber aus eigenem Erleben. So etwa die Geschichte mit den "Feueranbetern".
In seiner Eigenschaft als Arzt hörte Norbekov von seltsamen Heilungen von Schwerkranken, die alle in einem bestimmten Kloster stattgefunden haben sollen. Er beschloss dort hinzufahren, um sich deren Behandlungsmethoden anzuschauen. Dabei waren ein Regisseur und ein Kameramann, die darüber ein Reportage drehen wollten. Das "Kloster der Feueranbeter" lag auf einem schwer zugänglichen Berg, aber man hatte ihnen Transportmittel versprochen. Diese bestanden dann allerdings nur aus Mauleseln, auf die sie gerade mal ihre Gepäckstücke laden konnten. Ansonsten ging's zu Fuss, 26 Kilometer bergauf. Ich erspare die Details. Sie kommen irgendwann oben an, werden freundlich empfangen und in die Gepflogenheiten der Klostergemeinschaft eingeweiht. Eigentlich gibt es nur eine Regel. Man darf sich nicht versündigen! Und als Sünder gilt, wer keine aufrechte Haltung hat und nicht lächelt! Wer diese Regel nicht einhält muss im "im Wirtschaftsbetrieb helfen". Damit ist gemeint, man muss eine steile Felswand von 600 Metern Höhe hinabsteigen, in Serpentinen von 4 Kilometern Länge. Unten angelangt muss man 16 Liter Wasser schöpfen und nach oben tragen, in Krügen die auch nochmals 5 Kilo wiegen. Norbekov und seine Crew war gleich beim ersten Sühnegang dabei. Total erledigt wieder oben angekommen wurden sie umgehend nochmals zum Wasserholen geschickt. Aber wieso denn? Sie hatten doch gelächelt bei ihrer Ankunft!! Ja, aber unterwegs? Es stellte sich heraus, dass die Wasserträger auf ihrem Weg mit Feldstechern beobachtet wurden. Da half kein Jammern. Mit der Zeit gewöhnten sie sich an die Regel und des Wasserholens war ein Ende. Eigentlich war das Wasser holen auch gar nicht nötig, da es oben eine Wasserstelle gab. Aber das haben sie erst viel später erfahren. Nach 40 Tagen baten die drei dort bleiben zu dürfen, aber man schickte sie, als Geheilte, wieder in die Zivilisation zurück.
In dieser Geschichte steckt der ganze Therapieansatz von Norbekov. Die äussere Haltung und das Lächeln bewirken erstaunlicherweise einen inneren Reinigungsprozess, der, im Zusammenhang mit gezielten Übungen, zu einer Heilung von allen möglichen Krankheiten führt. Dieser Weg ist, laut Norbekov, viel direkter und effektiver als ein Ansatz bei den Gefühlen oder beim Versuch, die Denkprozesse zu verändern, ganz zu schweigen von der gängigen Symptombekämpfung (wozu auch mechanisch ausgeführte Augenübungen gehören!). Bis sich die neuen Lebensgewohnheiten im Gedächtnis als Gewohnheit etablieren dauert es ca. 40 Tage.
In dieser Art, und nur so, also mit der gestreckten, selbstbewussten Haltung eines Siegers, mit freudigem Herzen und entsprechend breitem Lächeln auf dem Gesicht ("aber nicht mehr als einen Meter breit!") sind die Übungen auszuführen, andernfalls sie nicht nur nichts bringen, sondern den Glauben an deren Wirkungslosigkeit nähren. Norbekov spricht bei richtiger Handhabung von einer Dioptrie Sehverbesserung in 6-8 Tagen, plus einer Eingewöhnungszeit von 40 Tagen, während der man ständig weiterarbeiten muss. Ist die Sache einmal etabliert, lässt sie sich nicht so leicht wieder umstossen, es sei denn, sie wird durch eine eben so lange Periode einer schlechteren Gewohnheit wieder aus den Angeln gehoben. Wär aber schade.
Also, eine wie ich meine empfehlenswerte Lektüre, die einen sicher nicht unberührt lässt, egal wie man den Lösungsansatz beurteilen mag. Klarheit über die Wirksamkeit schafft freilich nur die Praxis.
Liebe Grüsse
Gisander