Mary K. hat geschrieben:Hallo lieber Martin!
[...]
Es waren 3 Brillenträgerinnen dabei. Ich habe sie ganz unbefangen befragt was sie davon denken. Ich habe mir so meine Gedanken gemacht, ob eine Brille den wirklich so schlimm sei. Und sie das natürlich auch gefragt. [...]
Liebe Grüße Mary
Also, ich empfinde „eine Brille“ als schlimm. Oder würde sie empfinden, wenn ich davon abhängig bin/wäre. Ganz dezidiert. Auch wenn ich sagen muss, dass ich dabei in meinem näheren Bekannten- und Verwandtenkreis ziemlich allein bin. (...)
Eine Brille auf der Nase zu haben ist an und für sich erst mal wie das Tragen eines besonders hochwertigen Kleidungsstück an einem ungewöhnlichen und auffälligen Ort. An sich nichts Dramatischeres. Wenn man die Brille zu Schutzzwecken oder für ungewöhnliche Sehanforderungen trägt, würde ich die Sache auch genauso auffassen und mir überhaupt nichts dabei denken. Aber die Abhängigkeit für Alltagsanforderungen ist eben eine andere Dimension. ...
Im Unterschied zum Kleidungsstück ist es bei der Brille aus genau zu benennendem Grund eben nicht eine Frage von Geschmack und Selbstbild allein, ob man zu dem veränderten „Image“, das sie einem gibt, (viel dauerhafter übrigens als Kleidung), „steht“. Denn bei der Kleidung ist
der originäre Zweck der Schutz, die Isolierung von der Außenwelt; alle dekorativen und sozialen Werte sind ein Begleiteffekt, ein zweiter Nutzen derselben Sache. Anders bei der Brille: Die trägst du gerade, um die Verbindung zur Außenwelt zu vermitteln, zu kanalisieren. Im Kontakt (zu Mitmenschen, zur Umwelt, zur Sonne) ist sie eigentlich immer im Weg, und ihren dekorativen Wert schreibt man ihr diesen Einschränkungen zum Trotz zu, gewissermaßen „als Trostpreis“.
Ich sehe das genauso wie Sven, dass die Frage zunächst von der medizinischen Seite her beantwortet werden sollte, - und von da auch ausreichend (negativ) beantwortet werden kann (zumindest für die meisten Fälle erworbener Fehlsichtigkeit).
Aber selbst ohne die Perspektive ständig steigender Dioptrien: Zur Gesundheit gehört auch die Seele. Und meine Seele ist/wäre belastet von der Aussicht, die gesamte Wirklichkeit nur mehr durch Gläser zu erleben. Auf Lebenszeit. Das ist NICHT das Normale, sondern das Unnormale. Es ist ein ganz kleines Stück von dem Unterschied, ob man als Kind selber auf der Straße spielt, oder ob man bei der Oma hinterm Fenster sitzt und zuschaut. Man kann es schlecht rational begründen (außer mit starken Abstraktionen, verzerrtes Bild, verengtes Blickfeld, geteilte Aufmerksamkeit etc.), aber ich bin mir sicher, als Brillenträger erlebst man seine Welt weniger direkt.
Oder, um dasselbe noch einmal anders zu sagen, ich kann mir die Philosophie einfach nicht zu eigen machen, dass eine Brille die (auch nur zeitweise) Korrektur eines körperlichen Unzulänglichkeit sein soll. Vielmehr, jedesmal wenn ich die Brille auf- und absetze (obwohl, eigentlich noch viel öfter, Stichwort.: Brillenrand) wird mir bewusst, was sie in Wirklichkeit ist: eine Art „optische Druckschleuse“, um die Welt auf ihrem Weg zu meinem Auge so vorzuverzerren, zu präparieren, dass ich armer Behinderter sie leidlich korrekt interpretiere.
Sie hilft mir keine Sekunde, ohne mich zugleich daran zu erinnern, dass ich einem Problem nur ausweiche, nicht es überwinde.
Nein, es hilft nichts: alle Wege führen (zurück) zum Augentraining.