Palmieren
("Palming", William Bates, M.D., Better Eyesight Magazine, Vol. IX, No. 6, Dezember 1924)
Mit Palmieren ist gemeint, dass die Augen mit den Handtellern einer oder beider Hände abgedeckt werden, während die Augen selbst geschlossen sind. Der Zweck des Palmierens ist es, Entspannung ["relaxation"] für die Augen und den Geist zu erlangen beziehungsweise die Augen und den Geist auszuruhen. Mit geschlossenen und abgedeckten Augen gibt es für den Patienten nichts Gegenständliches zu sehen. Wenn es richtig ausgeführt wird, so ist das Gesichtsfeld komplett schwarz und der Patienten sieht auch nichts außer dieser Schwärze. Die meisten Patienten nehmen während des Palmierens jedoch eine große Vielfalt von Dingen wahr bzw. stellen sie sich vor. Insbesondere verschiedenfarbige Lichter, Rot, Grün, Schattierungen von Blau, weiße Lichter, die einzeln oder in Mehrzahl auftreten können. Diese werden während unterschiedlich langer Zeitabschnitte wahrgenommen. Einige Patienten stellen sich diese Lichtphänomene so deutlich vor bzw. nehmen sie so deutlich wahr, dass es sehr schwer ist, sie davon zu überzeugen, dass sie "eigentlich" nicht vorhanden sind.
Wenn der Patient erfolgreich palmiert und vollständige Ausgeruhtheit erreicht, so imaginiert er währenddessen [sofern er darauf achtet], er sehe vollkommene Schwärze bzw. nimmt es in seinem Gesichtsfeld wahr. Die Zahl von Patienten, die dazu [auf Anhieb] in der Lage sind, ist klein und es kann nur von solchen vollbracht werden, die [in diesem Augenblick] die volle Sehkraft besitzen.
Während des Palmierens ist es unmöglich, mittels Anstrengung oder Strain* Entspannung irgendwelcher Art zu erlangen. Wenn nichts zu tun ist, so sollte auch nichts getan werden. Es ist gut und wichtig, zu erkennen, dass das Palmieren auf eine richtige aber auch auf eine durchaus ganz und gar falsche Weise durchführt werden kann.
Es konnte gezeigt werden, dass alle Personen, die nicht die volle Sehkraft besitzen, unter einem bewussten oder unbewussten Strain stehen, wenn sie versuchen, zu sehen. Palmieren kann nur dann zu Ausgeruhtheit führen, wenn der Patient, während er palmiert, nicht [angestrengt] versucht, zu sehen. Manche Leute erkennen, dass es nicht möglich ist, irgendetwas Gegenständliches zu sehen, wenn die Augen geschlossen und mit den Handtellern abgedeckt sind und daher versuchen sie es erst gar nicht; andere Leute strengen ihre Augen an, um zu sehen, während sie palmieren, obgleich sie eigentlich wissen, dass es falsch ist. In solchen Fällen ist klar ersichtlich, dass die geistige Selbstkontrolle verloren gegangen ist. Sie tun Dinge, die zu tun sie nicht beabsichtigen. Einige Leute sind in der Lage, ihren Geist ohne großen – wenn überhaupt vorhandenen – Aufwand von einem Geistesgegenstand zum nächsten treiben zu lassen. Einige Personen können mit der Zeit erfolgreicher palmieren als andere.
Eine meiner Patientinnen entdeckte eine sehr einfache und effiziente Methode, das Palmieren zu verbessern. Während sie einen Freund behandelte, der zuvor niemals eine Verbesserung seiner Fehlsichtigkeit durch Palmieren erlangen konnte, erzählte sie ihm die Geschichte einer schwarzen Ameise. Diese schwarze Ameise kam aus dem dunklen Boden und kletterte den Stamm einer sehr schönen Rose hinauf. Es war eine langwierige Angelegenheit für die Ameise aber sie kletterte unbeirrt weiter. Folgte dem Auswuchs des ersten Zweiges und dann einem anderen, krabbelte dabei bis an den äußersten Rand jedes Blattes – bis sie schließlich die Blüte entdeckte. Sie kletterte mit großer Geschicklichkeit über die Blütenblätter, bis sie tief im Inneren des Zentrums der Blüte eine kleine weiße Schale, mit Honig gefüllt, fand. Der Patient konnte sich vorstellen, wie die Ameise ein wenig von dem Honig mit sich fortnahm, dann zunächst zur Spitze der Blume krabbelte und dann wieder hinunter zum Stamm, um schließlich, zurück am Boden, einer zweiten Ameise zu begegnen, mit der sie ein kurzes Gespräch führte, welches reichlich Gestikulieren mit Kopf und Beinen beinhaltete. Dann machte sich die zweite Ameise auf den gleichen Weg, wie zuvor die erste.
Der Patient, während er palmierte, hörte der Erzählung sehr aufmerksam zu, die sich über eine Viertel- bis eine halbe Stunde erstreckte. Er erklärte schließlich, dass er nun tatsächlich in der Lage sei, tiefes Schwarz zu sehen und als er seine Handteller von den geschlossenen Augenlidern nahm und danach seine Augen öffnete, war der präsente Visus an der Snellen-Sehtafel außergewöhnlich gut. Vor dem Palmieren war er nicht in der Lage gewesen, auch nur einen einzigen Buchstaben auf der Sehtafel zu erkennen und war auch darüber hinausgehend praktisch vollkommen blind. Nach dem Palmieren und dem Visualisieren der Geschichte von der Ameise war er in der Lage, eigenständig seinen Weg durch den Raum zu finden und einige der Buchstaben von der Sehtafel abzulesen.
Die Geschichte von der Ameise mit ihren daraus hervorgehenden mentalen Bildern regt zu weiteren Geschichten an, die von anderen Dingen handeln können und dann entsprechend andere mentale Bilder hervorbringen. Einige Personen sind in der Lage, ihren Geist anstrengungslos treiben zu lassen, während sie palmieren. Es ist für den Geist normal, (an) viele Dinge zu denken, die ganz von sich aus in den Geist gelangen und auch wieder ganz von sich aus aus ihm verschwinden, ohne jegliches Bemühen und ohne jegliches Strainen. Es ist eine regelrechte Kunst, den Geist treiben zu lassen und (an) alle möglichen Arten von Dingen zu denken, ohne jegliches Bemühen und ohne den Versuch, speziell eine ganz besondere Sache in der Vorstellung sehen bzw festhalten zu wollen. Solange wir wach sind, ist es vollkommen normal, (an) viele unterschiedliche Dinge zu denken, die stets ohne jegliche Bemühung in unser Bewusstsein gelangen.
Eine Lehrerin, welche unter Augen-Strain in Verbindung mit schweren Kopfschmerzen litt, war nahezu augenblicklich in der Lage, Linderung zu erlangen, indem sie sich selbst in einem Boot sitzend imaginierte, welches auf dem Wasser schwamm. Sie erfreute sich daran, einen Fluss im hohen Norden hinunterzutreiben, in einer Szenerie, die überwiegend aus Eis und Schnee bestand. Für die Abwechslung wählte sie einen tropischen Fluss mit seiner tropischen Randvegetation, seinen Vögeln und vielen anderen dort lebenden Tieren. Sie hatte einen Paradiesvogel in Gefangenschaft gesehen und erfreute sich an der Erinnerung an sein brillantes Gefieder. Krokodile waren anscheinend von besonderem Interesse, ebenso das Spiel der Affen in den Bäumen, sodass ihr Geist stets ausreichend gut beschäftigt war. Während sie nun also diese Flüsse entlangtrieb, war sie von ihren Imaginationen und deren stetigen Wandlungen so eingenommen, dass sie vollständig ihren Augen-Strain und ihre Kopfschmerzen vergaß, während sie palmierte. Als sie das bemerkte bzw. an das Palmieren dachte, stellte sie fest, dass sie vollkommene Schwärze wahrnahm – was bedeutet, dass sie hinter den geschlossenen Augenlidern und der Abdeckung mit den Handtellern einfach nichts sah.
Eine Patientin, die große Schwierigkeiten dabei hatte, erfolgreich zu palmieren, war sehr gestört durch verschiedenfarbige Lichteindrücke, die sie wahrnahm. Wenn sie mittels diverser Bemühungen versuchte, sie loszuwerden, wurden sie deutlich stärker und ihr Unwohlsein wurde durch das Palmieren eher schlimmer, als dass es gelindert wurde. Ich schlug ihr vor, dass sie an eine erfreuliche Reise nach Europa denken sollte, die sie unternommen hatte. Sie erwiderte, dass sie ständig seekrank gewesen sei und die Reise ihr nicht gutgetan hätte. Die einzige Sache, an die sie sich ohne Unbehagen erinnern konnte bzw. die sie sich ohne Unbehagen vorstellen konnte, war eine Wanderung durch den Wald, währenddem sie die Namen aller Vögel notierte, die sie sah. Sie interessierte sich zudem sehr für Botanik und kannte die Namen der meisten Wildblumen des Ortes, an dem sie lebte.
Einige Leute können sich während des Palmierens gut an die Äste und Zweige von Bäumen erinnern oder an hohes Gras, das sich im Wind bewegt. Das Imaginieren des schnell und lebhaft fließenden Wassers eines Baches kann eine Wohltat bedeuten, gegeben wiederum den Fall, dass dies ganz ohne Anstrengung geschieht. Eine vorgestellte Reise an eine Meeresküste kann erholsam und erfreulich werden, wenn die Wellen oder Brecher imaginiert werden, die heran- und wieder fortströmen. Sitzt man in einem schnellfahrenden Zug, so befindet sich die Sehszenerie, die sich einem darbietet, wenn man aus dem Fenster blickt, in ständiger Bewegung bzw. Veränderung und dies ist für gewöhnlich erholsam für die Augen und den Geist. Sitzt man in einem Auto, so nimmt der Fahrer besonders aufmerksam aber gleichzeitig ganz mühelos die Straße wahr, wie sie sich auf ihn zubewegt bzw. zuzubewegen scheint und ist somit für gewöhnlich entspannter, als ein Beifahrer, der vornehmlich an der sich bewegenden bzw. sich verändernden Szenerie interessiert ist und dabei bewusst oder unbewusst versucht, die Bewegung anzuhalten.
Wird eine Anstrengung unternommen, Dinge als starr und unbeweglich bzw. unbewegt zu imaginieren, so können Kopfschmerzen, Augenschmerzen und andere Unwohlseingefühle die Folge sein. Palmieren wird erholsam und wohltuend, sobald die Erinnerung an bewegte bzw. sich bewegende Objekte vollkommen ist und/oder man nicht bewegte bzw. sich nicht bewegende Objekte als sich in einer vorgestellten Bewegung befindlich imaginieren kann.
Indem man nicht bewegte bzw. sich nicht bewegende Objekte als scheinbar in Bewegung befindlich imaginiert, während man palmiert oder auch, während man in einem Auto fährt oder ähnliches, gerät man in die Lage, die erwünschte Entspannung zu erlangen.
Die Erinnerung an Halos** – während man palmiert oder auch, während man gerade die Augen offen hat – kann ebenfalls eine große Wohltat bedeuten. Alternieren*** ist ebenfalls eine Wohltat – für den Blick ebenso, wie für den Geist – und das Palmieren verbessert sich, je größer das Maß an erlangter Entspannung ist.
Kurzfristiges zwischenzeitliches Öffnen der Augen mit gleichzeitigem bewussten Registrieren der jeweiligen Seheindrücke ["flashing"], abgewechselt mit länger andauernden Phasen des Palmierens oder kurzfristiges zwischenzeitliches Palmieren, abgewechselt mit länger andauernden Phasen des Sehens mit offenen Augen verbessert sowohl das Palmieren, als auch die Sehkraft.
*** Für eine Übertragung dieses englischen Begriffes ins Deutsche, so wie er bei Bates meiner Auffassung nach gemeint ist, siehe z.B. hier.
*** Für eine Beschreibung dieser besonderen optischen Illusion, siehe z.B. den entsprechenden Artikel in Better Eyesight, Vol. II, No. 2, Februar 1920
*** Für eine Beschreibung dieser speziellen Sehpraxismethode, siehe z.B. den entsprechenden Artikel in Better Eyesight, Vol. IX, No. 12, Juni 1925